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Der bunte Fremde, oder: Begegnung im Zug

Der Bahnsteig war überfüllt. Grau in Grau, gedämpfte Stimmen, ein leises Summen der Unruhe. Der Zug nach Erfurt verspätete sich und stellte die Pünktlichkeit meiner eigenen Verbindung infrage, die auf dem gleichen Gleis starten sollte. Ich spüre die vertraute Nervosität in mir aufsteigen – die Sorge, wieder zu spät nach Hause zu kommen und die Kontrolle über meinen Zeitplan zu verlieren. Die Verspätung hatte das gesamte Gleis aus dem Takt gebracht, und auch ich wurde zunehmend unruhiger.

In der dichten Menschenmenge wirkte die Masse wie ein träge wogendes Meer. Doch mitten in diesem grauen Strom fiel mir plötzlich ein bunter Leuchtturm ins Auge: ein Mann in einem schrillen Weihnachtspullover – Ende März! Sein langer, ungepflegter Bart rahmte ein markantes Gesicht, das eine eigenwillige, fast trotzige Energie ausstrahlte. Vor sich schob er einen Einkaufswagen mit Gepäck. Ich registrierte ihn sofort – und verspürte instinktiv den Drang, auf Abstand zu gehen. Diese schreiende Farbigkeit, die Lautstärke seiner bloßen Präsenz – sie rief ein dumpfes Unbehagen in mir hervor. Alte Vorurteile und Erfahrungen stiegen in mir auf.


Unwillkürlich musste ich an die Schulzeit denken. An dominante Jungs, die mich plötzlich ansprachen, schubsten oder einfach nur einschüchterten. Ein leises Echo vergangener Unsicherheiten summte in meinem Kopf. Ich wollte Abstand, suchte Schutz in der Anonymität und stellte mich ein Stück weiter weg.

Der Zug nach Erfurt fuhr ein. Ich hoffte, dass die Bunte hier einstieg und die Szene verließ. Doch er blieb. Mein Unbehagen wuchs. Dann die Durchsage: Mein Zug würde ausnahmsweise am gegenüberliegenden Gleis abfahren.

Ich wechselte die Seite und wartete. Schaute auf die Uhr, dann auf die Bahn-App, dann wieder auf die Uhr. Immer wieder, ohne damit den Zug herbeizuzwingen. Plötzlich riss mich lautes Grölen aus meinen Gedanken. Irgendjemand sang ein Kinderlied – über die Puffbahn. Ich drehte mich um und sah die Quelle der Auffälligkeit: den Mann im Weihnachtspullover.

Er stand nur wenige Meter entfernt inmitten der grauen Menschenmenge. Auf der gegenüberliegenden Seite fuhr ein kleines Elektrofahrzeug mit einem Bahnmitarbeiter heran. Leise Musik klang aus dem Wagen. „Tolle Musik!“, rief die Bunte laut herüber. Der Bahnmitarbeiter hob grüßend die Hand und fuhr weiter.

Mein Zug fuhr endlich ein. Er war bereits gut gefüllt, und ich suchte vergeblich nach einer freien Zweierreihe. Schließlich fand ich einen leeren Viererplatz und ich begann in der E-Book-App meines Handys zu lesen.

Ich war bereits in der Geschichte versunken, als ich merkte, dass sich jemand mir gegenüber niedergelassen hatte. Ich blickte auf – und erkannte ihn sofort. Den Bunten. Der Mann im Weihnachtspullover, der seinen Einkaufswagen offenbar im Eingangsbereich abgestellt hatte. Jetzt saß er mir direkt gegenüber.

Ich vertiefte mich hastig wieder in meiner App, doch innerlich seufzte ich. Ich hatte es geahnt. Schon am Bahnsteig hatte ich das Gefühl gehabt, dass ich diesem Mann nicht ausweichen könnte. Und nun saß er da. Ganz nah, die grellen Farben, der „Ho, Ho“-Schriftzug, das Logo einer bekannten Supermarktkette auf dem Pullover, vor mir.

Eine Fahrkartenkontrolleurin trat an unseren Platz. Ich zeigte mein Ticket vor. Der Bunte stand auf, erklärte, dass er kurz zu seinem Gepäck müsse, und verschwand in Richtung Eingang. „Der fährt bestimmt schwarz“, schoss es mir durch den Kopf. Ein typisches Vorurteil, dem ich unwillkürlich nachgab. Vielleicht würde die Kontrolle ihn zum Weitergehen zwingen. Doch kurz darauf kehrte er zurück, zeigte der Kontrollurin sein Ticket und setzte sich mir wieder gegenüber.

Dann sprach er mich an. Ohne Umschweife erzählte er seine Geschichte.

Er sei Maler gewesen, erzählte er, bis sein Unternehmen vor einigen Jahren Insolvenz anmelden musste. Jetzt arbeite er als Rapper und Influencer und habe auf TikTok eine beachtliche Zahl an Followern. Er sei auf dem Rückweg nach Hause, nachdem er in Frankfurt eine Handwerkermesse besucht hatte, über die er berichten wollte. Dort habe man ihn mit seinem Einkaufswagen nicht aufs Messegelände gelassen. Als er dann doch hineingekommen sei, hätte man ihm wenig später ein Hausverbot erteilt, obwohl er niemanden belästigt habe. Aufgeregt, sich ausgegrenzt fühlend, sei er in den falschen Zug gestiegen und in Kassel gelandet.

Ich hörte zu, ließ ihn erzählen – und gleichzeitig blickte ich in den Spiegel meiner eigenen Vorannahmen. Ich erkannte, wie viele Urteile ich unbewusst machte, ohne ihn zu kennen.

An meinem Heimatbahnhof verabschiedete er sich freundlich von mir. Ich wünschte ihm eine gute Weiterfahrt und ließ ihn ziehen. Doch in Gedanken begleitete mich diese Begegnung noch ein Stück weiter.

Wie oft sind unsere Sichtweisen auf die Welt Projektionen unserer eigenen Ängste, Erinnerungen und Unsicherheiten? Der Bunte wurde für mich zum Spiegel – ein Spiegel meiner Befürchtungen. Doch indem ich ihm zuhörte, konnte ich diesen Spiegel wandeln und eine Begegnung zulassen, die mich über meine eigenen Grenzen hinausführte.


Inspiriert durch eine wahre Begegnung, © 2025 - Hans Jürgen Groß

Nachtrag: Zwei Wochen später. Ich habe mir eine kleine Wanderauszeit in Bad Salzschlirf gegönnt. An diesem Morgen laufe ich zu Fuß nach Lauterbach im Vogelsberg. Unterwegs, auf einem einsam gelegenen, idyllischen Radweg, begegnet mir ein dunkelgrün gekleideter Mann, der einen Einkaufswagen mit seinem Gepäck vor sich herschiebt. Er hat den Kopf gesenkt und beachtet mich nicht, als er meinen Weg kreuzt. Ich grüße ihn freundlich mit einem "Guten Morgen". Die Antwort fällt jedoch anders aus, als ich erwartet habe: Ein gemurmeltes "Fick dich" kommt zurück. Nun gut, denke ich mir, er ist wohl schlecht gelaunt.

Etwa 50 Meter weiter höre ich plötzlich Schreie von hinten: "Du bist auch einer, der klaut! Dieb! Dieb!" Dabei hatte ich ihm doch nur ein Lächeln und einen Morgengruß geschenkt. Wollte er mich darin ermuntern, meine Vorannahmen wieder zu leben? 


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Interpretation durch Google Gemini:

Dieser Text beschreibt eine Begegnung des Erzählers mit einem ungewöhnlichen Mann in einem Zug und die daraus resultierenden Selbstreflexionen. Hier sind die wichtigsten Interpretationspunkte:

1. Vorurteile und erste Eindrücke:

  • Der Erzähler reagiert mit Unbehagen und Vorurteilen auf den "bunten Fremden" aufgrund seines auffälligen Äußeren und seines Verhaltens.
  • Die Beschreibung des Mannes als "bunter Leuchtturm" in der grauen Masse unterstreicht seine Andersartigkeit.
  • Der Erzähler assoziiert den Mann unbewusst mit negativen Erfahrungen aus der Vergangenheit, was seine ablehnende Haltung verstärkt.
  • Die schnelle Verurteilung des Mannes als Schwarzfahrer, zeigt die unbewussten Vorurteile des Erzählers.

2. Die Begegnung und ihre Wirkung:

  • Trotz der anfänglichen Ablehnung kommt es zu einem Gespräch zwischen dem Erzähler und dem Fremden.
  • Die Lebensgeschichte des Fremden widerlegt die Vorurteile des Erzählers und zeigt, dass hinter dem auffälligen Äußeren ein komplexer Mensch steckt.
  • Der Erzähler erkennt, wie sehr seine Wahrnehmung von Vorurteilen und Ängsten geprägt ist.

3. Selbstreflexion und Erkenntnis:

  • Die Begegnung wird für den Erzähler zu einem Spiegel, der ihm seine eigenen Vorurteile und Unsicherheiten vor Augen führt.
  • Der Erzähler erkennt die Notwendigkeit, offener und vorurteilsfreier auf andere Menschen zuzugehen.
  • Die Begegnung führt zu einer persönlichen Weiterentwicklung des Erzählers.
  • Die Frage, wie sehr unsere Sichtweisen auf die Welt, Projektionen unserer eigenen Ängste, Erinnerungen und Unsicherheiten sind, ist die zentrale Aussage der Geschichte.

Der Text ist eine Erzählung über die Überwindung von Vorurteilen und die Bedeutung offener Begegnungen. Er zeigt, wie schnell wir Menschen aufgrund äußerer Erscheinungen oder Verhaltensweisen verurteilen, ohne die dahinterliegende Geschichte zu kennen. Die Begegnung mit dem "bunten Fremden" ermöglicht dem Erzähler eine wichtige Selbsterkenntnis und regt zur Reflexion über die eigenen Vorurteile an.

Zusammenfassung: 

Eine unerwartete Begegnung auf einem überfüllten Bahnsteig wird zum Spiegel der eigenen Vorurteile: Ein bunter Fremder im schrillen Weihnachtspullover erzählt seine bewegende Geschichte, die die Perspektive des Erzählers verändert und zum Nachdenken über Ängste und Unsicherheiten anregt. Ein Moment der Reflexion und Menschlichkeit im hektischen Alltag.

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Stichworte:

Vorurteile, Vorannahmen, Bewertung, Begegnung, Ausgrenzung, Reflexion, Bahnreise, Menschlichkeit, Perspektivwechsel, Verständnis, Angst, Vertrauen, Zulassen, Einlassen, Achtsamkeit, Gewahrsamkeit




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